Oder wie lange können sich die letzten zwei Minuten nach einer 16-Stunden-Schicht hinziehen?
Linie fliegen nur mit Fracht. Toll! Ist zwar von Montagabend bis Samstagmorgen immer von 22h Abflug in Südengland mit einem Hopp in die Mitte Deutschlands von anderthalb Stunden, je nach Windrichtung, drei Stunden Aufenthalt dort inklusive Plausch mit den Loadern, um fünf Uhr deutscher Zeit Rückflug nach Südengland und dort Ankunft nach etwa derselben Flugzeit, ausladen, ab ins Hotel und den ganzen Tag zur freien Verfügung.
Ist das gesund?
Im OPS fragt man sich, ob das gesund ist, vier Stunden Schlaf von 8-12 Uhr, dann aufstehen, Kaffee trinken, in die Stadt zum Essen gehen, dabei viel frische Luft tanken entlang des Strandes in Hastings. Von 16-20 Uhr noch mal vier Stunden Schlaf und wieder zum Platz: Dienstantritt für die Nachtschicht.
Wahrscheinlich ist das mit den acht Stunden gesunden Schlafs anders gemeint. Aber wir fühlen uns wohl damit. Ist ja keine wirklich anstrengende Route, und die Päckchen und Postsäcke werden von Loadern eingeladen. Wir beaufsichtigen nur die Gewichtsverteilung. Ist wie Urlaub machen – im Vergleich zu unserem eigentlichen Ad-hoc-Chartergeschäft, in dem es rund um die Uhr zugeht wie auf einem Jahrmarkt.
Ihr macht ja nur Urlaub
Deshalb werden wir heute zur leichten Beute für den Chef. Zehn Stunden nach der letzten Landung scheucht er uns wieder los.
Nur kurz von Südengland leer nach Paris Le Bourget fliegen, dann mit einer Palette Fracht weiter nach Lissabon. Easy peasy.
„Bis zum Abflug um 22h aus Lydd sind Sie locker wieder zurück“, sagt er im Brustton der Überzeugung. Na, wenn er meint…
Sieht aus wie unsere Metro
Bislang kennen wir die Strecke vom Hotel in Hastings zum Flugplatz Lydd nur im Dunkeln, abends hin und morgens, wenn es noch nicht hell ist, zurück.
Jetzt ist es 14h. Kurz vorm Erreichen des Flugplatzes erregt ein von der fahlen Herbstsonne beschienenes Schild unsere Aufmerksamkeit. War das schon immer da? Es zeigt ein Flugzeug in extremer Fluglage. Dieser Flieger, der unserer Metro zum Verwechseln ähnlich sieht, zielt mit seiner Nase im Messerflug auf das Kernkraftwerk unter sich, das tatsächlich in bedrohlicher Nähe zur Landebahn errichtet wurde.
Ist das nur eine Grundangst der Menschen vor Flugzeugen in Verbindung mit Atommeilern? Wir hatten hier bislang keinen Zwischenfall. Obwohl wir zugeben müssen, dass uns jedes Mal beim Start ein mulmiges Gefühl beschleicht, wenn wir direkt nach dem Abheben auf der Runway 21 in noch niedriger Höhe umgehend eine Rechtskurve einleiten müssen – randvoll mit Fracht und Sprit.
Der Grund: direkt hinter der Bahn liegt ein militärisches Schießgebiet. Es ist das letzte Trainingslager, in dem die jungen Soldatinnen und Soldaten mit scharfer Munition den Häuserkampf üben, bevor sie nach Afghanistan geschickt werden.
Und wenn die auf uns schießen?
So ein Bengel könnte in Versuchung geraten, statt auf einen Pappkameraden auf ein echtes, bewegliches Ziel zu schießen, das in niedriger Höhe zum Greifen nahe über ihn hinwegsteigt.
„Die Fracht ist schon da.“
Abflug pünktlich um 15h mit der üblichen Nachricht vom Chef: „Die Fracht ist schon da.“
15:45h rollen wir in Paris Le Bourget vors GAT.
„Die Fracht muss noch durch die Security. Kaffee während der Wartezeit gefällig?“
„Non, merci.“ Helen bedankt sich artig. Sie beneidet Paul, als der Handlingagent ihm noch zwei weitere Tassen nachschenkt. Er hat einfach mehr Möglichkeiten, den während des Fluges – ohne Toilette an Bord – wieder loszuwerden. Immerhin sind es 3:45h Flugzeit von Paris nach Lissabon.
Die Zeit läuft dem Chef und seiner Milchmädchenrechnung davon. Wenn wir unsere reguläre Lydd-Kassel-Route heute Nacht noch dranhängen sollen, sollte die Fracht langsam am Flieger auftauchen.
Pauls Handy ist ununterbrochen im Einsatz. Was, wenn eine andere Crew die Nachtlinie fliegt. Eines der Flugzeuge steht in Inverness und muss nach Köln in die Werft, die könnten doch auf dem Weg…
Viele Varianten werden vom Flugberater in Frankfurt vorbereitet. Jetzt bloß nicht die losen Faxblätter der unterschiedlichen Flugrouten durcheinanderbringen. Und weil alle ungestört schlafen möchten, bekommen wir zu den Flugunterlagen für den vierstündigen Rückflug von Lissabon nach Lydd auch noch zur Sicherheit die Variante von Lissabon direkt nach Kassel zugeschickt. (Falls es doch nicht so passt und die Inverness-Crew die Fracht auf ihrem Weg nach Deutschland mitnimmt.)
Die letzte Variante ist uns mit ihren kurzen 5:20h Flugzeit schon fast lieber. Dann könnten wir, während die Fracht verladen wird, noch einen Kaffee trinken, bevor es zurück nach Lydd geht.
Nach der Landung in Lissabon ist die Palette schnell ausgeladen. Eine SMS vom HQ: „Gehen Sie von Lissabon direkt nach Kassel für die Rückfracht.“
Helen wundert sich stets, dass die Bezahlstellen an den Flughäfen, obwohl nichts los ist, auch nachts besetzt sind.
Punkt Mitternacht geht es weiter
Abflug aus Lissabon Punkt Mitternacht. Um halb drei Uhr morgens strahlt das hellerleuchtete Paris mit illuminiertem Eiffelturm die sieben Kilometer hoch bis zu uns ins Cockpit. Eine schöne Abwechslung, denn seit Stunden ist es, bis auf die Positionslampen an den beiden Flügelenden, um uns herum stockdunkel und totenstill im Funk. Unsere Augen haben der Kabinenluft kaum noch etwas entgegenzusetzen, so sehr entzieht sie seit Stunden allem innerhalb der Metallröhre auch noch das letzte Molekül Feuchtigkeit.
„Die Schicht von heute Nachmittag schlummert bestimmt schon zu Hause im Bettchen.“
„Nur noch vier Stunden, dann ist es bei uns auch soweit.“
In Kassel bekommen wir frisches Wetter für die letzte Flugstrecke nach Lydd.
„Lydd erwartet uns mit Schauern und starken Böen aus unterschiedlichen Richtungen.“
„Wird etwas mehr schaukeln als sonst.“
In Lydd ist noch immer die Bahn 21 aktiv. Fünf Grad Offset auf dem ILS (Instrumentenlandesystem). Das bedeutet, dass man mit der Flugzeugnase selbst bei Windstille nicht auf die Landebahn zielt, sondern genau auf die vier Atomreaktoren drei Meilen links daneben. Erst kurz vor dem Aufsetzen darf laut Anflugblatt der Rechtsschlenker auf die Bahn erfolgen. Das sieht aus dem Cockpit einer pfeilschnellen Metro schon bei ruhiger Luft spannend aus. Aber heute erwartet uns dazu garstiges Wetter.
Wie lange können sich die letzten zwei Minuten nach einem 16-Stunden-Flugdienst hinziehen? – Sehen Sie selbst.
Zunächst sinken wir ohne Sicht nach außen durch die Wolken. Schließlich erkennen wir die beleuchtete Landebahn 21, rechts daneben die Lichter des Flugplatzes und links die vier angestrahlten Atommeiler. Dabei weht ein böig umlaufender Wind.